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Pranayama - von der Atembeobachtung zu gezielten Erkundung und Weitung der Atemräume - Teil 2


von Dr. Ralph Skuban

Im ersten Beitrag dieser Serie sprachen wir vom Hinschauen und Beobachten: Bevor wir beginnen, den Atem gezielt zu lenken, wie das im Pranayama geschieht, ist es wichtig, ihn zunächst in seinem natürlichen oder normalen Zustand zu erleben. Das Wort normal trifft es besser als der Begriff natürlich, weil nicht alle Menschen einen natürlich-gesunden, sanft-fließenden Atem im Alltag haben. Dysfunktionale Muster wie zum Beispiel ein unrhythmischer oder chronisch verstärkter Atem sind ein häufig anzutreffendes Phänomen und für viele Menschen ihr Normalzustand. Das spürende und beobachtende In-Kontakt-Gehen mit der eigenen Atmung, sowie es im Praxisteil des letzten Beitrags vorgestellt wurde, ist wichtig, um den eigenen Atem, wie er sich im Moment zeigt, erlebend zu begreifen, bevor man mit intensiveren Pranayama-Übungen beginnt. Der Atem sollte uns zum guten Freund werden. Eine Atembeobachtungspraxis von zweimal 20 Minuten am Tag über mehrere Wochen hinweg ist eine gute Vorbereitung dafür.


Atmen wongyulee/pixabay 1
© wongyulee/pixabay


Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkankungen, Bluthochdruck, Brustschmerzen, Asthma, COPD, Migräne, Nierenerkrankungen, Glaukom, Ängsten oder Depressionen würde man ein klassisches Pranayama, dessen zentrales Merkmal willentlich verlängerte Atemanhalte oder Kumbhakas sind, nicht empfehlen, bevor sie nicht zu einer gesunden Atmung im Alltag gefunden haben, mit welcher in der Regel auch eine deutliche Verbesserung ihrer Beschwerden einhergeht. Das gilt auch für die Übungen, die ich in diesem Beitrag vorstellen möchte. Diese sind zwar noch kein Pranayama im klassischen Sinne, sondern eine Erweiterung der Idee der Atembeobachtung. Darüber hinaus stellen sie ein erstes Eingreifen in den Atemprozess dar, das – je nachdem wie man übt – auch intensiver sein kann. Ich nenne diese Praxis die Erkundung der Atemräume.


Wohin fließt der Atem?

Ein für die Atemarbeit wichtiger Aspekt dreht sich um die Frage, wohin der Atem fließen kann oder soll, welche Bereiche unseres Körpers also wir mit dem Atem füllen. Hier klingt die Idee eines Gefäßes an. Genauso stellen sich die Yogis den Körper bei der Atemarbeit vor. Einer der grundlegenden Texte des klassischen Hatha Yoga, die Gheranda Samhita aus dem 17. Jahrhundert, verwendet den Sanskrit-Begriff Gatha, also Krug oder Gefäß. Der gesamte yogische Weg wird dort als Gatha-Yoga beschrieben, und die Atempraxis bildet dessen Herzstück, sowie das auch in anderen klassischen Hatha-Texten, wie der Hatha Yoga Pradipika (14. Jh.).

Das Erkunden der Atemräume, das wir im Folgenden im Liegen üben wollen, ist nach der Beobachtung des natürlichen Fließens des Atems der nächste Schritt im Aufbau einer eigenen Pranayama-Praxis. Diese Erkundung integriert die Aspekte der Beobachtung und Weitung, sowie immer wieder ein freies Anhalten des Atems.


Pranayama Die heilsame Kraft des Atems
Ralph Skuban (Autor)
,
Patrick Broome (Vorwort)
Pranayama
Die heilsame Kraft des Atems
Die heilsame Kraft des Atems
Gebundenes Buch
Ralph Skuban widmet sich der Kunst des Pranayama, indem er die uralte Tradition in allen Einzelheiten darstellt und zugleich eine Brücke zur Yoga-Praxis des 21. Jahrhunderts schlägt. In einer Zeit, die von Hektik - und damit Kurzatmigkeit - geprägt ist, kommt der Beruhigung des Atems eine immense Bedeutung zu. Diese meisterhafte Studie stellt nicht nur eine brillante Abhandlung über die verschiedenen Atem-Übungen dar, sondern macht vor allem deutlich, welche segensreiche Wirkung die Beherrschung des Atems auf die Gesundheit ausübt.


Bevor wir beginnen, mag ich aber noch ein kurzes Wort zur Weitungs-Idee sagen: Wenn wir in dieser Praxis mehr Luft einatmen, als wir das im Alltag tun – wenn wir also bewusst größere Atemzüge machen – dann geht es uns hier ausschließlich darum, die von innen her eintretende Dehnung unseres „Atemgefäßes“ zu erfahren und klar zu spüren, dass der Atemprozess sich in verschiedenen Bereichen vollziehen und dorthin auch bewusst geführt und gespürt werden kann. Das Ziel ist, den eigenen Atem durch Erleben tiefer zu verstehen. Ein solches intensiviertes Atmen bringt uns nicht unbedingt mehr Energie, sondern kann, wird es zu intensiv und unachtsam ausgeführt, in Anstrengung und Erschöpfung führen.1 Deshalb will ich Euch einladen, sanft zu üben, vorsichtig zu spüren, immer wieder Pausen zu machen und ernsthaft, aber auch mit spielerischer Neugier zu atmen.


Die Atemräume im Liegen erkunden - Vorbereitung

Lege Dich bequem auf den Rücken und stelle die Füße etwa hüftbreit auf, das entlastet den unteren Rücken. Die Zehen weisen etwas nach innen, die Knie lehnen bequem aneinander. Du kannst zusätzlich einen Yogagurt oberhalb der Knie fixieren, nicht zu locker, nicht zu fest, so dass Du ganz in diese Haltung hinein loslassen kannst. Deine Hände lege auf dem Bauch ab, die Ellenbogen ruhen bequem auf dem Boden. Lege gerne ein flaches Kissen unter Deinen Kopf, damit der Hals nicht überstreckt bzw. der Nacken nicht komprimiert.


Jaiveer Singh: Die Atemräume im Liegen erkunden - Vorbereitung
© www.jaiveeryoga.com

Den Körper wahrnehmen

Bevor Du mit der Atempraxis beginnst, komme einen Moment zur Ruhe. Nimm den ganzen Körper wahr – vom Kopf zu den Füßen und von den Füßen zurück zum Kopf. Eine Wahrnehmungsreise durch den Körper („Body Scan“), um unser Spüren zu aktivieren, ist sehr zu empfehlen. Je mehr Zeit Du Dir dafür nimmst, desto besser!


Der untere Atemraum

Bringe Deine Aufmerksamkeit zum Bauch hin, wo Deine Hände aufliegen und nehme zwei oder drei Minuten wahr, wie die Bauchdecke sich mit der Einatmung weitet und mit der Ausatmung zurückschwingt. Schau dem Atem teilnehmend zu: Erlebe ihn, fühle ihn, doch verändere ihn noch nicht willentlich. Er verändert sich wahrscheinlich allein durch Dein Hinschauen, das ist in Ordnung. Mache aus der Atembeobachtung kein Problem für den Verstand, lass ihn denken, wenn er denken will, doch Du bleib einfach im Spüren von Atem und Körper.

Wenn Du Dich gut verbunden fühlst mit dem Atem im Bauchraum2, dann beginne damit, Atemzug für Atemzug etwas größer werden zu lassen und den unteren Atemraum mit der Einatmung stärker zu weiten. Lass Dir Zeit und weite nur so stark, wie Du Dich wohl fühlst damit. Wenn Du möchtest, kannst Du auch die Ausatmung verstärken, indem Du gegen Ende der Ausatmung die Bauchdecke in Richtung Wirbelsäule ziehst und Dich leer machst, so gut Du es unangestrengt kannst. Gib beim Atmen auch den Pausen zwischen Ein- und Ausatmung Raum und Aufmerksamkeit: Wann will ich in die Ausatmung gehen? Wann kommt der Einatmen zurück?

Noch wohltuender wird diese Atmung, wenn Du Dein Becken dabei „rollen“ lässt: Mit der Einatmung hebe leicht den unteren Rücken an, der Po bleibt am Boden, du gehst also in ein sanftes Hohlkreuz. Mit der Ausatmung bringe den unteren Rücken zurück zum Boden. Dann atme ganz aus, ziehe die Bauchdecke zur Wirbelsäule und schließe die Ausatmung ab mit einer kurzen Kontraktion der Muskeln im Beckenboden.

Nach 5—7 solcher Atemzüge gehe in einen Atemanhalt nach der Einatmung: gehe in die Fülle, halte den Atem an, koste die Fülle in Stille aus, solange du dich damit wohlfühlst. Dann lass in die Ausatmung hinein los und spüre nach. Nachspüren heißt konkret: Fühle Deinen Körper! Wenn Gedanken oder Emotionen kommen, die dich fortragen möchten, gehe immer wieder zurück in den Körper. Lasse dir dafür ein paar Minuten Zeit, bevor du den nächsten Atemraum erforschst.


Der mittlere Atemraum

Führe Deine Hände nun etwas höher, so dass sie die unteren seitlichen Rippen umfassen. Bringe Deine Aufmerksamkeit zu den Händen hin und nehme einige Zeit die Bewegung des Atems wahr: Mit der Einatmung weiten sich die unteren Rippen, mit der Ausatmung schwingen sie zurück. Erlaube, dass der Einatem kommt, wie er kommen will und lasse die Ausatmung passiv geschehen. Schaue dem Atem zu – nicht als ein nur unbeteiligter Beobachter, sondern spürend und erlebend. Wenn Du bewusst mit deinem Atem in Kontakt gehst, verbindest du dich mit dem, was am Ende deines Lebens gehen wird, mit anderen Worten: mit einer tieferen Dimension deinerselbst. Den alten Yogis war die Arbeit mit dem Atem immer eine zutiefst spirituelle Angelegenheit.


Jaiveer Singh: Der mittlere Atemraum
© www.jaiveeryoga.com

Wenn Du, wie auf dem Bild zu sehen, den Brustkorb leicht erhöhst – zum Beispiel mit Hilfe einer zusammengerollten Yogamatte – kann dir das helfen, die Atmung im mittleren Raum noch tiefer zu erleben.

Nach einiger Zeit beginne auch hier, wie du das zuvor im unteren Atemraum gemacht hast, die Einatmung Schritt für Schritt zu verstärken: Weite Deine Mitte. In die Ausatmung lasse passiv los. Du kannst die Ausatmung nicht verstärken wie im Bauchraum, die Rippen schwingen einfach zurück.

Nach 5—7 Atemzügen gehe noch ein letztes Mal in die Weitung, fülle deine Mitte und halte den Atem an. Bleibe solange in dieser Atempause, wie du dich wohlfühlst damit. Dann lass passiv in die Ausatmung los und spüre nach. Kein Kontrollieren des Atems mehr, sondern zulassen und spüren. Fühle deinen Körper. Die Sensationen. Ein inneres Fließen vielleicht. Wenn du das Gefühl hast, müde zu werden, gehe es sanfter an. Weitung bedeutet nicht maximal-mögliche Dehnung, sondern schlicht das Erleben innerer Weite. Hier ist nichts zu leisten, ebenso wenig beim Anhalten des Atems. Gestalte dein Atmen genussvoll!


Der obere Atemraum

Jaiveer Singh: Der obere Atemraum
© www.jaiveeryoga.com

Bringe die Hände noch höher und lege sie auf den oberen Bereich deines Brustkorbes. Achte auch hier darauf, dass die Hände entspannt liegen und die Ellenbogen auf dem Boden ruhen.

Der obere Atemraum ist sehr sensibel, wir könnten ihn den „emotionalsten“ Bereich des Atemgefäßes nennen. Um ihn zu adressieren, brauchen wir auch am meisten Energie, zugleich fasst er das geringste Volumen (das größte Volumen fasst der untere Atemraum).

Bringe deine Wahrnehmung zu den Händen und versuche, die Weitung mit der Einatmung zu spüren. In die Ausatmung lasse passiv los. Wenn du nach einiger Zeit der Beobachtung mit der aktiven Weitung beginnst, sei besonders achtsam und strenge dich nicht zu sehr an – das Atmen soll dich nicht erschöpfen. Atemzug um Atemzug verstärke die Einatmung. Schau, wie weit du gehen willst: Wenn es sich gut anfühlt, kannst du den Einatem in den oberen Raum so groß machen, dass du ihn bis unter die Schlüsselbeine, vielleicht sogar in die Schultern und Oberarme hinein fühlst. Energetisch kann Atmen im gesamten Körper gefühlt werden, nicht nur dort, wo das physische Geschehen sich vollzieht. Dein ganzer Körper atmet.

Nach 5—7 Atemzügen gehe in den abschließenden Atemanhalt nach der Einatmung. Gehe in die Fülle und verweile dort in Stille, solange du dich gut damit fühlst. Dann entspanne in die Ausatmung hinein und fühle deinen Körper.


Das Spüren danach

Das Spüren nach dem Atemprozess ist die eigentliche Medizin. Wenn Emotionen kommen: Sie haben einen Ort im Körper mit Größe, Form, innerer Bewegung und Textur. Dahin gehe und spüre. Nimmst du Spannungen wahr? Wunderbar! Gehe hin, fühle sie, atme in sie hinein. Deine Spannungen sind deine Energie, gebundene Kraft, die du dir wieder ins System zurückholen kannst. Der Atem hilft dir dabei, er macht das Feste fließend und das Schwere leicht. Er ist das Leben, das mich und dich lebt und öffnet heilige Räume, in welchen schmerzhafte Spannungen schmelzen.

Bis zum nächsten Mal. Habt viel Freude beim Atmen und Spüren!

Euer Ralph

Die Fotos zeigen Jaiveer Singh, der auch das Vorwort zu Ralphs Pranayama-Buch geschrieben hat (www.jaiveeryoga.com).

1. An dieser Stelle möchte ich auf meinen Beitrag im Yoga-Aktuell-Sonderheft Heilung verweisen, welcher das Thema der chronisch-verstärkten Atmung und deren Folgen behandelt.

2. Natürlich atmen wir anatomisch nicht in den Bauchraum, sondern immer in die Lungen. Doch wenn die Aufmerksamkeit auf den Bauchraum gelenkt wird, führt dies dazu, dass die Ausdehnung der Lungen vor allem in ihrem unteren Bereich geschieht – der Atem (Prana) folgt unserer Aufmerksamkeit (Chitta). Die Weitung der Bauchdecke bei der Einatmung tritt dadurch ein, dass das Zwerchfell sich zusammenzieht und nach unten bewegt. Wir nennen die Bauchatmung auch Zwerchfell- oder diaphragmatische Atmung. Der von mir bevorzugte Begriff unterer Atemraum hält den Prozess frei von technischen Fragen, die dem Atemerleben oft im Wege stehen können.


Dr. Ralph Skuban
© www.skuban.de
DR. RALPH SKUBAN

© www.skuban.de In der Philosophie des Ostens, in der Mystik überhaupt, fand RALPH SKUBAN die Tiefe des Suchens, um die es ihm geht; die Offenheit und Toleranz, die der institutionalisierten Religion zumeist fehlt, die Weisheit praktischer Psychologie – und dazu die Freude, eine tägliche Praxis in sein Leben zu integrieren. 

In den letzten Jahren begann RALPH SKUBAN Bücher zu schreiben und Seminare zu halten. "Östliche Philosophie ist keine trockene Theorie, sondern es geht ihr um die Frage nach einem guten Leben, nach Sinn und Tiefe, und vor allem um die Suche nach unserer spirituellen Essenz, dem inneren Licht, das eins ist mit dem Höchsten. Die Essenz der Upanischaden und aller mystischen Wege der Menschheit lautet: DAS bist du. Tat Tvam Asi."

Direkt zur Website von Dr. Ralph Skuban: www.kaivalya-yoga.de


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