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Novemberwald


von Katri Dietz

Die Tage werden kürzer, es regnet viel, das Jahr neigt sich dem Ende – über der Landschaft liegt Nebel wie ein Hauch von Wehmut. Hier lauern Abschied und Vergänglichkeit. Und auch Totensonntag, auch Ewigkeitssonntag genannt, und der Volkstrauertag erinnern uns im November immer wieder an unsere Lieben, die schon von uns gegangen sind. Da bin ich keine Ausnahme, auch ich habe Verluste erlebt.

Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben, das tut mir immer noch weh. Erst in diesem Jahr im März starb auch meine liebe Tante nach langem Leiden an der Nervenkrankheit ALS. Von vielen geliebten Verwandten in Finnland musste ich ebenfalls schon Abschied nehmen.


Novemberwald von Katri Dietz
© Maria Orlova/pexels.com


Chronisch glücklich“, wie ich mein Business nenne, bedeutet nicht, dass ich Schmerzen, Trauer und Kummer ignoriere und permanent strahle und lache, weil mir alles egal ist. Auch mein Coaching-Schwerpunkt Positive Psychologie ist nicht „die Psychologie der Verleugnung“, was anscheinend allgemein angenommen wird.

Ich habe heute aber einen anderen und leichteren Umgang mit meiner Trauer gefunden.

Therapien, Coaching, Seelsorge und viele andere Anlaufstellen können im akuten Trauerfall helfen.

Dinge, die wir nicht ändern können – wie Krankheit und Tod - müssen wir langfristig akzeptieren und loslassen; sonst leiden wir unnötig und verletzen uns selbst. Schmerz ist unvermeidlich – Leiden ist freiwillig (Buddhismus)

Gleichzeitig ist es wichtig für unsere mentale Gesundheit, dass wir unsere Verluste ausreichend betrauern, ohne zu sehr ins Selbstmitleid zu gehen. Doch wo hört das eine auf, und fängt das andere an?

Verleugnen und verdrängen wir Trauer und Kummer, begraben wir die Gefühle irgendwo in unserem Körper, bis sie sich wieder zeigen – meistens durch Schmerz. Jeder trauert auf seine Weise. Es gibt keine allgemeingültigen Wegweiser.

Es gibt aber viele Wege, wie wir in ganz kleinen Schritten selbstwirksam unseren Herbstdämonen, der Depression und unserer Traurigkeit entgegentreten können. Einer davon führt mich immer wieder in den Wald, in die Achtsamkeit.

Im Einklang mit der Natur, im Novemberwald, erleben wir, dass das Sterben zum Leben gehört. Es ist unausweichlich. Es ist der älteste Kreislauf der Welt. Leben, Vergehen, Sterben, Wiedergeburt können wir hier direkt vor unseren Augen begreifen, sehen und berühren.

Der über den Wiesen liegende Dunst hat dem November seine alten Namen gegeben: Nebelmonat, Nebelmond. Es sieht wunderschön und mystisch aus.

Ich blicke über die Wiesen und schlendere Richtung Waldweg. Meine Hündin begleitet mich, rennt kreuz und quer, schnuppert hier und buddelt da.

Meine Stimmung ist seit ein paar Tagen nicht so positiv, wie sie sein könnte. Ich bin schnell gereizt, habe eine schlechtere Impulskontrolle, bin empfindlich.


Meine Stimmung ist seit ein paar Tagen nicht so positiv, wie sie sein könnte
© Johannes Plenio/pexels.com


Heute nehme ich mir die Zeit, ein Naturcoaching mit mir selbst durchzuführen.

Was ist da los? Ich sehe jede Menge Situationen im „Außen“, im Alltag, die mich aus meiner Ruhe bringen. Man soll ja vorsichtig mit seinen Wünschen sein: Ich hatte mir einen aufregenden Mann gewünscht und jetzt regt er mich auf. Ich weiß aber auch, dass es nicht an ihm liegt, wenn ich mich ärgere. Also hole ich tief Luft, um im Wald und bei mir anzukommen.

In der Natur kann ich atmen. Die würzige Luft füllt meine Lunge und ich atme tief ein, zähle bis drei, atme bis fünf zählend wieder aus.

Einfach nur im Wald stehen und atmen konnte ich vor einigen Jahren noch nicht. Ich hätte das nicht ausgehalten, mich nicht zu bewegen, nicht aufs Handy zu schauen, keinen Podcast oder keine Musik zu hören, nur zu fühlen, was gerade da ist. Ich war wie getrieben, immer auf der Flucht, nie in mir ruhend.

Wer immer wegrennt, ist in der Stille mit sich selbst konfrontiert.

Als ich 2017 schwer krank wurde und meine Muskeln sich rapide aufgelöst haben, war nichts mehr mit Weglaufen. Gott hat mich ans Bett gefesselt und heute bin ich ihm sehr dankbar dafür. Ich konnte nicht mehr weglaufen und musste mich mit meinen Gefühlen auseinandersetzen.

Das macht nicht wirklich Spaß - wer fühlt schon gerne Todesangst und Traurigkeit - aber es ist absolut unerlässlich, wenn wir den Menschen kennenlernen wollen, mit dem wir vierundzwanzig Stunden unseres Tages verbringen – uns selbst. Nachdem ich mich mit meiner Angst auseinandergesetzt habe, kam das Vertrauen.

Ich finde, ich habe jetzt genug ein -und ausgeatmet und richte meinen Fokus auf die äußere Umgebung.

Der Rantzauer Forst in Schleswig-Holstein ist genauso wie viele andere Wälder, Forste und Naherholungsgebiete in Norddeutschland, ein Mischwald aus Buchen, Eichen und ein paar Nadelbäumen. Keine Überraschung. Die einzige Überraschung, die ich hier immer wieder erlebe, ist die, dass der von vielen totgeglaubte Herbst gar nicht so tot, grau und braun ist.

Der Wald ist auch Mitte November bunt und lebendig: Ocker, gelb, orange, Terracotta und erstaunlich viel Grün bilden ein vielschichtiges Puzzle. Die Blätter auf dem Weg rascheln unter den Pfoten meiner Hündin und unter meinen langsamen Schritten. Ich gehe vor mich hin und achte darauf, auch gelegentlich stehen zu bleiben. Entschleunigung fällt mir immer noch grauenhaft schwer. Ich will am liebsten rennen, oder wenn das nicht geht, doch zumindest zügige 10.000 Schritte am Tag schaffen. Aber nein. Hier ist die Leistung, keine Leistung zu erbringen.

Nur gehen, atmen, schauen. Hinfühlen. Ich bin hier – was macht das mit mir?

Hoch über mir bilden die Baumkronen Dächer, wie eine natürliche Kathedrale. Ich fühle mich beschützt und behütet. Dieses Gefühl atme ich tief ein. Das möchte ich mit nach Hause nehmen. Es dehnt sich warm in meinem Brustkorb aus.


Nur gehen, atmen, schauen. Hinfühlen. Ich bin hier - was macht das mit mir?
© omidarmin/unsplash.com


Ich schreite und raschele weiter und bin entspannter.

Alles wird leichter. Ich lasse los. Egal was war, ich fokussiere mich nur auf den Moment, verbinde mich mit der Natur. Belohne zwischendurch meine Hündin mit einem Leckerli, werfe ihren Ball, den sie nicht wiederfindet, bis ich ihn hole und wieder werfe.

Ich denke nicht darüber nach, wie es mir geht, was sein sollte oder was ich machen muss. Jetzt habe ich die Zeit, einfach nur hier zu sein. Alles ist gut, wie es ist. Ich bin nicht wütend auf meinen Mann. Irgendetwas anderes beschäftigt mich, aber ich komme nicht dran. Weil ich auch weiß, dass ich meine Gefühle nicht kontrollieren kann, lasse ich sie einfach so, wie sie sind. Es wird sich lösen, wenn ich bereit bin.

An einer Wegkreuzung steht eine stämmige Buche etwas exponiert.

Ich schaue hoch in ihre Krone. Die meisten Blätter fehlen schon.

Dieser Baum ist für mich heute der richtige. Ich möchte mich noch mehr mit der Energie des Waldes verbinden und diese Buche feste drücken. Ich bin gespannt, was passiert. Manchmal nichts, manchmal alles gleichzeitig.

Erst schaue ich, ob nicht doch noch Hundespaziergänger unterwegs sind, mein Ego ist noch nicht bereit dafür, „bekloppte Baum-Umarmerin von Barmstedt“ genannt zu werden.

Ich lehne meinen Kopf an die Rinde, baue eine Verbindung zu Mutter Erde und Vater Himmel auf und fühle mich schon im selben Moment gehalten. Anlehnen ist auch eine therapeutische Übung.


An einer Wegkreuzung steht eine stämmige Buche etwas exponiert
© Beyzaa Yurtkuran/pexels.com


Dann schlinge ich die Arme um den Baum und sofort steigt ein ganz klares Bild in mir auf: Ich umarme meinen Papa, der mich auch immer ganz fest an sich gedrückt hat. Die ganze Liebe, die mein Vater und ich hatten, umgibt mich hier und heute wie ein Leuchten. Ohne Groll, Wut und Vorwürfe. Ich lasse mich in seine Umarmung fallen und fühle deutlich meine Trauer. Erinnerungen steigen auf, wie ich als kleines Mädchen mit meinen Füßen auf seinen Füßen durchs Haus laufen durfte, wie er mich schon damals gehalten hat. Wie wir später zusammen geangelt haben. Wie im Zeitraffer sehe ich uns Fische räuchern, lachen, spielen und auch streiten.

Tränen laufen mir über das Gesicht, ich erlaube mir zu weinen, bis es nach einiger Zeit genug für mich ist. Langsam löse ich die Arme vom Baum und lasse los.



Clemens G. Arvay: Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel: Autistische Kinder mit der Heilkraft des Waldes fördern
Clemens G. Arvay (Autor)

Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel

Autistische Kinder mit der Heilkraft des Waldes fördern
Naturkontakt hilft uns auf die Sprünge, frei von Zwang und Anspruch

Die Wirkung des Waldes auf die Gesundheit des Menschen erforscht der Biologe Clemens G. Arvay seit Jahren mit Neugier und Methode. In diesem Buch verknüpft der Vater eines autistischen Jungen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Heilkraft der Natur mit ganz praktischen Tipps zur Förderung der Entwicklung insbesondere autistischer Kinder. Wald und Fluss bieten den idealen Raum für spielerischen Kontakt zur Außenwelt. Wie die Waldtherapie die kindliche Wahrnehmung durch gezielte Sinnesreize in der Natur stimuliert, fokussiert und trainiert, beschreibt Clemens Arvay anhand zahlreicher Beispiele. Der natürliche Weg zu persönlichem Wachstum und einem besseren Verständnis des Phänomens »Autismus«.



Das Bild löst sich auf, ich bin wieder hier und jetzt. Ich bin erwachsen, 47 Jahre alt. Ich bedanke mich bei dem Baum, dass er mich mit der Liebe meines Vaters verbunden hat. Liebe stirbt nie. Und was hat das mit mir und meinem Mann zu tun? Ich ahne die Antwort. Mehr brauche ich gerade nicht. Liebe, Frieden und Dankbarkeit erfüllen mich.

Erstaunt stelle ich fest, dass ich schon über eine Stunde im Wald bin. Gleich wird es dunkel.

Auf dem Weg zurück zur Straße zeigt sich die untergehende Sonne im lichten Nebel wie eine Fata Morgana. Rot- orange- pinke und lilafarbene Schwaden wabern über eine Lichtung, ein riesiger roter Sonnenball verschwindet langsam hinter den Bäumen. Es ist immer ein betörendes Schauspiel im November.

Ehrfürchtig sauge ich diesen Anblick in mir auf. Je weniger Sonnenmomente wir haben, desto kostbarer werden diese kurzen Begegnungen. Vielleicht war es ein Gruß von meinem Vater aus dem Himmel - vielleicht aber auch nicht. Das, was du glaubst, ist deine Wahrheit.

Im schwärzer werdenden Grau versinkt der Novemberwald und ich gehe langsam zurück in mein Leben.

Was hinter mir bleibt, ist Stille.




Katri Dietz


Katri Dietz
© Katri Dietz
ist staatlich geprüfte Rundfunkjournalistin, Autorin und zertifizierte Psychologische Beraterin/ Personal Coach für chronisch kranke Frauen mit dem Schwerpunkt Positive Psychologie.

Bis zu ihrer schweren Erkrankung 2017 mit Polymyositis hat die gebürtige Hannoveranerin als Freie Redakteurin und Presenterin für verschiedene Radiosender Norddeutschlands gearbeitet (z.B. radio ffn, NDR, R.SH)

Katri Dietz nutzt heute die Natur, Reiki, ihre eigenen Erfahrungen mit Traumaheilung sowie ihre fundierte Ausbildung, um anderen chronisch kranken Frauen Mut zu machen und neue Lebensfreude zu vermitteln. Voraussichtlich im September 2024 wird sie auch die Weiterbildung zur Resilienztrainerin erfolgreich abgeschlossen haben.

Im Heyne Verlag hat sie bereits zwei Romane veröffentlicht, Wickelkontakt (2011) und Härtetest (2012). Weitere Romane sind in Planung.

Die 47-jährige ist seit 2005 verheiratet und hat zwei jugendliche Kinder. Zur Familie gehören auch eine Hündin und zwei Katzen aus dem Tierschutz. Die Natur-Coachin lebt und arbeitet in ihrer Wahlheimat Schleswig-Holstein.



Unheilbar und unsichtbar


Polymyositis ist eine seltene rheumatische Autoimmunkrankheit der Muskeln. Katri Dietz möchte mehr Aufmerksamkeit und Verständnis für Menschen mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen schaffen.

Allein zum rheumatischen Formenkreis gehören über 400 Erkrankungen. Rheumatoide Arthritis, Morbus Bechterew, Lupus, Gicht und Vaskulitis sind die bekanntesten.

Direkt zu Homepage von Katri Dietz: www.katri-dietz.de



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