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Mein Sohn, Herr Möll, Notker und ich


Die Journalistin und Buch-Autorin Silia Wiebe erinnert sich für uns an wilde Zeiten. Als sie Familienzuwachs bekam und die Phantasiefreunde ihres Sohnes mit am Tisch saßen. Und einiges durcheinanderbrachten. Das ist schon ein paar Jahre her. Gelernt hat sie daraus, dass sich Phantasie bei Kindern anders zeigt als bei uns Erwachsenen. Angstfreier, spielerisch, mit ganz viel Witz. Während wir Großen sofort zusammenzucken, wenn wir etwas denken, das wir nicht denken sollten oder fühlen, was sich vielleicht nicht gehört und uns sofort selbst bewerten, lassen Kinder ihre Vorstellungen einfach zu. Und das ist gut so.

„Mein Freund Möll raucht weiße Zigaretten und trinkt Bier“, sagte Ole eines Abends beim Essen. „Er hat einen Papa und eine Mama und einen Bus.“ Für meinen dreijährigen Sohn war die Vorstellungsrunde damit beendet. Seelenruhig schnitt er seinen Frischkäse in zwei Stücke: „Das ist für Möll und das für Ole“, sagte er. „Ich teile!“

Ich stellte fest: Mit Möll, von dem ich gerade zum ersten Mal gehört hatte, zu teilen fiel Ole leichter, als seinen Kita-Freunden auch nur eine Minute sein Bobbycar zu leihen. Und in den folgenden Wochen stellte sich Möll als ein sehr unkomplizierter Zeitgenosse heraus, auch wenn er als einziges Familienmitglied Kette rauchte. Er haute meinem Sohn kein Auto auf den Kopf. Er nahm klaglos hinter ihm auf dem Bobbycar Platz und überließ Ole das Steuer. Er hatte viele lustige Ideen. Zum Beispiel schöpfte er gerne Wasser aus dem Waschbecken und transportierte es in die Toilette. Dabei hinterließ er riesige Wasserlachen. Ole sagte dann: „Möll hat das nicht mit Absicht gemacht.“ Wer war dieser Möll?

Silia Wiebe
© Silia Wiebe
Eigentlich saßen wir nämlich nur zu dritt am Tisch: Ole, mein Mann und ich. Dann änderte sich die Zahl der Familienmitglieder. Manchmal war da nicht nur Möll, sondern auch noch Pöppel. Davor gab es noch Notker und Hü. Aber die verschwanden wieder.
Sie kommen nicht mehr mit? Also: Pöppel ist der Freund von Möll und eigentlich nicht so wichtig weil er nur sehr kurz bei uns auftauchte. Möll ist der Nachfolger von Notker und wurde sehr wichtig. Notker war Oles erster Phantasie-Kumpel. Und davor war Notker A. unser Finanzmakler, den wir uns in der kollektiven Inflationspanik der Wirtschaftskrise zulegten. Er sollte unser übersichtliches Kapital gewinnbringend anlegen. Als seine Anrufe penetranter und seine Versicherungskonzepte kostspieliger wurden, schickten wir ihn entnervt zurück in die Maklerwüste. Wir schimpften noch ein bisschen auf seine windigen Verkaufsstrategien und vergaßen ihn dann.

Ole, damals drei, aber vergaß ihn nicht. Er wollte offenbar nicht auf den Mann verzichten, über den er so tolle Schimpfworte gehört hatte. Und so mischte der unsichtbare Notker unseren Alltag auf. Er mopste Gummibärchen. Er schickte Ole vor, Eis aus der Gefriertruhe zu organisieren und versteckte es dann in seiner Schublade im Kinderzimmer, wo ich es Wochen später als schmierigen Matsch entdeckte. Notker behauptete auch, die Schnullerfee sei bloß „eine alte Kackfee“, die ihm die Schnullis klauen wolle und darauf ließ sich Ole nicht ein: „Die Schnullerfee ist mir egal, der Schnuller gehört mir, Notker weiß das auch“, sagte Ole.

Irgendwann hatte ich den Bogen raus und lernte, wie ich Oles unsichtbaren Phantomfreund sinnvoll in die Erziehung einbinden konnte. Ich sagte: „Ole, sag Notker, dass er die gemopste Schokolade zurückbringen soll.“ Und Ole sagte es Notker. Und Notker brachte die Schokolade zurück. Super, dachte ich und war fast traurig, als Notker plötzlich verschwand.
Doch dann kam – wie bereits erwähnt –  Möll. Und der Abend, an dem mir Ole seinen neuen Freund in seinem Fotobuch zeigen wollte. „Da fährt Möll auf dem Karussell im Feuerwehrauto“, sagte Ole, während er das Foto suchte. Dann tippte er auf eine Seite und sagte: „Das hier ist Möll!“ Und ich sagte „Oh“, denn die Seite war leer. Ole fragte: „Fährt Möll Porsche oder Toyota?“ Weil ich es auch nicht wusste, gab es ein Riesengeschrei. „Doch Mama, du weißt es doch“, brüllte mein Sohn und war untröstlich.

Danach stellten mein Mann und ich uns ein paar Fragen: Bekommt unser Sohn nicht genug Aufmerksamkeit? Leidet er als Einzelkind trotz Kita und Nachbarskindern unter zu wenig Sozialkontakten? Geht die Phantasie mit ihm durch, weil er als einziger im Freundeskreis nicht fernsehen darf? Mein Mann hielt das für unwahrscheinlich. Ich ging erstmal googeln. Und fand eine neuseeländische Studie, die belegte, dass sich Kinder mit imaginären Freunden sprachlich besser ausdrücken – egal, ob der eingebildete Freund nun ein Notker, ein Teddy oder ein Miniaturprinz ist, der in der Kinderhand wohnt. Das gibt es nämlich alles, aber für die meisten Eltern sind die unsichtbaren Kumpels eben gewöhnungsbedürftig.
Am nächsten Morgen rief ich deshalb Frank Forster an. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –Psychotherapie und sagte: „Wenn das Kind sonst nicht verhaltensauffällig ist, würde ich zur völligen Entspannung raten.“ Denn, nein, Phantomfreunde seien kein Anzeichen für eine psychische Störung – schon gar nicht, wenn das Kind noch nicht zur Schule gehe. In seiner Praxis fielen Kinder mit ausgedachten Freunden eher durch Kreativität und Einfühlungsvermögen auf. „Wir gehen ganz unaufgeregt mit diesem Phänomen um. Eltern können auch ruhig nach den Freunden fragen und mitspielen, wenn ihr Kind das zulässt“.

Später mailte mir der Facharzt noch die Untersuchung von Marjorie Taylor, Leiterin des Department of Psychology in Oregon. Sie fand heraus, dass bis zu 65 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren Phantomfreunde erfinden und meint, dass Kinder damit versuchten, die Grenze zwischen Realität und Phantasie auszutesten: ein wichtiger Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung sei das. Und absolut kein Drama. Aber warum spielt Ole nicht lieber mit Paul, Henri und Eddy von nebenan Wassertransport oder Gummibärchen-Mopsen? Die Nachbarjungs hatten immerhin den Vorteil, dass man sie anfassen und auch ich sie sehen könnte, dachte ich. Marjorie Taylor geht einfach davon aus, dass Kinder sich mit den vielschichtigen Eindrücken auseinandersetzen müssen, die im Alltagstrubel auf sie einprasseln und manche dafür eben die Mölls und Pöppels brauchen, die wie eine Art psychischer Filter funktionieren.

Ich verstand das so: Während Ole mit seinen echten Kumpels praktische Dinge übte wie Stöckchen tauschen, schubsen und Bobbycar-Rennen fahren, waren seine Phantasiefreunde dazu da, herauszufinden, wie er mit Verboten, unerfüllten Wünschen oder Strafen umgehen sollte.

Frau Taylor riet in ihrer Studie, dem Kind die unsichtbaren Freunde nicht auszureden -– allerdings dürfe man als Mutter oder Vater durchaus signalisieren: Ich weiß, dass dein unsichtbarer Freund ein ausgedachter ist.
Aha! Am Nachmittag fragte ich Ole mit einem vielsagenden Augenzwinkern: „Was hat Möll denn heute so vor?“ Und Ole sagte: „Möll fährt heute zu Notker.“ Dabei grinste er ebenfalls vielsagend und ein bisschen schief und mir wurde klar: Im Grunde weiß auch Ole genau, dass Möll und seine Kumpels nicht wirklich existieren.

Inzwischen ist mein Sohn acht und an die Phantomfreunde kann er sich nicht mehr erinnern. Drei Monate nachdem sie bei uns aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder. Geblieben ist ein großes Fass an Phantasie, aus dem mein Sohn täglich schöpft. Und die Bitte um ein leeres Buch. Da schreibt er jetzt seine Geschichten rein. Die erste wird ein Krimi, hat er angekündigt. Wäre doch schön, wenn der unsichtbare Verdächtige zum Beispiel....Notker heißt.


Silia Wiebe
, geboren in Freiburg, studiert in Göttingen, glücklich in Hamburg, ist freie Journalistin. Sie schreibt unter anderem für Brigitte, Eltern und Chrismon. Ende März kommt ihr erstes Buch in die Regale: Ein Ratgeber von Eltern für Eltern mit vielen Alltagstipps, Experten-Interviews und ganz persönlichen Erfahrungsberichten zu der Kernfrage: Wie können wir uns von unseren hohen Ansprüchen an uns selbst befreien und im Alltag mal fünfe gerade sein lassen? Zum Beispiel beim Reisen mit Kindern, beim Essen, Schlafen, bei Beziehungsstress, der Vereinbarkeit von Job und Kind, wenn die Schwiegermutter nervt oder Gäste kommen.



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»Wir sind die lustigste, coolste und beruflich erfolgreichste Eltern-Generation aller Zeiten. Wir haben Verständnis für jedes Aua und I-Bäh unserer Kinder. Wir sind Profis im Stillen, gesund Kochen und selbstverständlich aktiv im Elternvorstand. Wir tragen unsere brüllenden Babys stundenlang durch die Nacht und rümpfen die Nase über die Laufställchen-Erziehungshilfen unserer Eltern«, sagt Autorin Silia Wiebe, selbst Mutter eines achtjährigen Sohnes.


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