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Ruhrfestspiele: Lars Eidinger liest Bertolt Brechts „Hauspostille“


von Annette Maria Böhm

Man findet ihn auf der Theaterbühne oder vor der Filmkamera, im Regiestuhl oder am Mischpult – Lars Eidinger hat nicht nur als Schauspieler viele Gesichter. Seine Performances zeugen von einer schier unerschöpflichen Energie, bei der jeder Auftritt eine Tour de Force ist, die das Publikum auf nahezu magische Weise ansteckt und elektrisiert. So auch gestern... einmal mehr in Recklinghausen.


Ruhrfestspiele 2024: Lars Eidinger singt, liest und spielt Brecht-Gedichte


Kein Zweifel: Lars Eidinger hat ein besonderes Verhältnis zu Bertolt Brecht. In Joachim Langs Spielfilm "Brechts Dreigroschenfilm" hat er ihn schon verkörpert. Und in Recklinghausen hat er gestern im Rahmen der Ruhrfestspiele aus dessen Gedichtsammlung "Hauspostille" gelesen, gesungen und gespielt. Und mein erwachsener Sohn Felix und ich waren dabei.

Lars Eidinger tritt vor eine grüne Projektionswand. Weiter schwarzer Anzug, Brille im 70er Jahre Look mit dezentem Goldrand. Nachdenklich hintergründig ist sein Vortrag: Gedichte von Bertolt Brecht aus den Jahren 1916 bis 1925. Hans-Jörn Brandenburg an Harmonium und Flügel versetzt das ausverkaufte Haus hundert Jahre zurück.


Ruhrfestspiele: Lars Eidinger liest Bertolt Brechts Hauspostille
© www.lebe-liebe-lache.com


"Hauspostille": Brechts dunkle Poesie


Bertolt Brechts "Hauspostille" ist eine Anspielung auf fromme Predigtsammlungen: "Bittgänge", "Chroniken" und "kleine Tagzeiten der Abgestorbenen" - so einige Kapitelüberschriften. Gefallene werden in den Texten gefeiert, Abgründiges ans Licht gezerrt, es ist dunkle Poesie über rohe Gewalt.

14 der 50 Gedichte sind vertont. Hans-Jörn Brandenburg, der unter anderem bei Helmut Lachenmann studierte und später für Frank Castorf, George Tabori und Robert Wilson Bühnenmusiken schrieb, begleitet stilsicher wie kreativ mit der ganzen Palette der Tonfarben "Orges Wunschliste".

Von den Freuden, die nicht abgewogenen.

Von den Häuten, die nicht abgezogenen.

Von den Geschichten, die unverständlichen.

Von den Ratschlägen, die unverwendlichen.

Von den Mädchen, die neuen.

Von den Weibern, die ungetreuen.

Von den Orgasmen, die ungleichzeitigen.

Von den Feindschaften, die beiderseitigen. 

Auszug aus "Orges Wunschliste"

Natürlich geht es um Alkohol - Brechts Alabama-Song von 1925, später erfolgreich vertont von Kurt Weill für "Mahagonny", weist den Weg zum Whiskey.


Well show me the way


To the next whiskey bar 

Auszug aus "Alabama Song"

Lars Eidinger: Well show me the way ...To the next whiskey bar
© www.lebe-liebe-lache.com


Ironisch, polemisch, zynisch und nicht selten voller Fäkalsprache zeigt Brecht auf, wie der Mensch verdirbt, wenn er nicht kritisch über sein Leben nachdenkt. Lars Eidinger ist in dieser Stunde bei den Ruhrfestspielen Brechts Sprachrohr. Choreografiert ist der Vortrag sparsam, deshalb sind die wenigen bewussten Effekte umso wirksamer: Zum „Choral vom großen Baal“ intoniert Brandenburg Michael Jacksons „Will you be there“. Jackson wendet sich in seinem Song an Gott, während an Baals Scheitern für Brecht nur Baal selbst etwas ändern kann.

„Von den verführten Mädchen“, ein anderes morbides Gedicht, trägt Eidinger mit hoher Stimme, die krächzt und leidet, vor. Die „Ballade von Mackie Messer“ wird nicht mit Musik von Kurt Weill hinterlegt, sondern mit „The Fool on the Hill“ von den Beatles. Dadurch entsteht eine Transportation der Gedichte ins Zeitlose. Überhaupt scheint Eidinger eine Vorliebe für Beatlessongs zu haben. Erinnerungen an seine Peer Gynt-Zugabe (Helter Skelter) vor drei Jahren werden bei mir wach.


Brechts Gedichte gepaart mit Eidingers intensiver Darbietung
© www.lebe-liebe-lache.com


Brechts Gedichte gepaart mit Eidingers intensiver Darbietung


Mein Sohn und ich stellen fest: Die Stimmung im Land ist durchaus vergleichbar mit der der 1920er-Jahre. Uns wird durch die betont einfache Darstellung klar, wie wichtig es wird uns selbst und die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Ohne großes Pathos wird Lars Eidinger im Ruhrfestspielhaus zu Brechts Stimme weil er nur dessen Texte sprechen lässt, ganz im Sinne des von Brecht konzipierten Epischen Theaters.


Ein Gedicht nach dem anderen liest, singt und schauspielert Lars Eidinger im Ruhrfestspielhaus, ernsthaft, in sich gekehrt, mit eigener Intensität und Brecht-Aura. Launig wird er wenn einzelne Zuschauer die Vorstellung vorzeitig verlassen (müssen) " Wir begeleiten sie gern mit Musik hinaus."

Bevor es hinübergeht ins Foyer, wo Lars Eidinger noch als DJ auflegen wird, singt er das Stück, was ich an diesem Abend am liebsten mag - "Imagine" von John Lennon. Und nein, es wird nicht kitschig auf den letzten Metern. Wir im Publikum singen mit und als das Licht erlischt, Eidingers Stimme und die Musik abrupt verstummen, bekommt das aus der Dunkelheit heraus gesungene "And the world will live as one" Gewicht.

Homepage Ruhrfestspiele: www.ruhrfestspiele.de




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