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Der Tod ist nur eine Illusion


von Dr. Ralph Skuban

Der mutige Krieger Yudishtira, einer der fünf Pandu-Brüder, zu denen auch Arjuna gehörte – der verzweifelte Bogenschütze, den Krishna in der Bhagavad Gita lehrt, mutig in den Kampf des Lebens zu ziehen – jener Yudishtira also stand einmal am Ufer eines kristallklaren Sees. Viele Entbehrungen lagen hinter den Brüdern und großer Durst quälte Yudishtira. Natürlich wollte er sofort vom kühlen Wasser trinken. Doch dann er sah seine vier Brüder tot am Ufer liegen. Großer Schmerz und Angst packten sein Kriegerherz. Da hörte er eine Stimme hinter sich. Er drehte sich um und erblickte einen Kranich. Der trug den Namen Dharma, das heißt: Wahrheit, Weg und ewiges Gesetz.

Der Tod ist nur eine Illusion: Climate Ride Saigon to Angkor Wat
© *Climate Ride*/flickr

Der Kranich sagte zu Yudishtira, dass er sterben müsse wie seine Brüder, wenn er von dem Wasser tränke, ohne zuvor ein Rätsel zu lösen. Doch wenn es ihm gelänge, so dürfe er trinken und leben, und seine Brüder würden aus den Armen des Todes befreit. Dharma stellte Yudishtira mehrere Fragen. Die letzte und wichtigste lautete: „Was ist das wundersamste von allen Dingen auf der Welt?“ Yudishtira antwortete: „Dass kein Mensch denkt, er selber könne sterben, obgleich er doch alle Menschen um sich herum sterben sieht.“ Yudishtira löste das Rätsel und bestand den Test. Seine Brüder erwachten zum Leben und alle tranken sie aus dem klaren See.

Ist es nicht seltsam? Wir alle wissen, dass wir sterben werden, dass jede Minute, die verstreicht, uns genau eine Minute näher an den eigenen Tod führt. Dieser Tod ist sogar die einzige Sicherheit, die wir haben. Wir wissen, dass er kommt – irgendwann, irgendwo, irgendwie. Doch wir wollen das nicht wirklich wahrhaben. Bloß weg damit, weg mit diesem dunklen Schatten, der uns dauernd begleitet! Nur im Kopf wissen wir es, nicht jedoch mit dem Herzen. Wir schauen den Tod nicht an. Und insgeheim hoffen wir: Mich trifft es nicht! Der Tod ist nicht mein Thema! Dabei geht es uns heute sogar noch schlimmer, als einst dem Krieger Yudishtira: Wenigstens sah er noch die Menschen sterben. Heute wird nicht mehr unter unseren Augen gestorben. Den Tod haben wir verbannt in Heime und Krankenhäuser.

Was stirbt, ist nur der Körper, in dem wohnt, was unzerstörbar und ohne Begrenzung ist. Deshalb kämpfe, Arjuna!


Der Tod ist nur eine Illusion: Krishna Arjuna
© askbcsmcom/flickr

Bhagavad Gita, Kapitel 2


Es ist immer das Unbekannte, das wir fürchten. Und so fürchten wir den Tod heute mehr denn je, denn wir sehen ihn nicht mehr wirklich. Dass wir uns fürchten, dafür müssen wir uns nicht schämen. Sogar Weise haben Angst vor dem Tod, lehrt das Yogasutra. Es ist diese Angst, die uns am Leben hängen lässt. Und sie ist das Ende einer Kette von Irrtümern, an deren Anfang der größte aller Irrtümer liegt: Der Glaube, dass unsere Existenz ausgelöscht würde, wenn der physische Körper stirbt. Das ist Avidya, wie die Yogaweisheit es nennt: die Blindheit – ein Sein im Dunkel, das uns glauben lässt, die vergängliche Welt sei alles, was es gäbe und der Tod das schlimmste Übel, so schlimm, dass wir ihn in die dunkelsten Kammern unseres Geistes verbannen, nicht darüber reden, nicht darüber nachdenken, ihn nicht ansehen und hoffen, dass er an uns vorüberziehen möge. Doch wir spüren: So wird es nicht kommen. Im Blick auf den Tod folgen wir also dem sprichwörtlichen Vogel Strauß: Kopf in den Sand. Und zugleich zelebrieren wir ihn in Kinos und Büchern. Wie zerrissen wir doch sind!

Die Angst vor dem Tod ist eine intrinsische, sich selbst erhaltende Kraft, die auch in weisen Menschen wirksam ist.

Die Hauptursachen des Leidens liegen sehr tief. Sie werden überwunden, indem der Geist zu der Quelle zurückkehrt, der er entspringt.

Dies geschieht durch Meditation.


Yogasutra, Kapitel 2