Kathrin Sohsts Romandebüt: Das Licht eines Jahres - mit Leseprobe

Buchengrün

Trotz des besonderen und schönen Moments mit Rike war Mina seltsam müde, als sie an diesem Abend in ihr Auto stieg und nach Hause fuhr. War es die Frühjahrsmüdigkeit? Oder doch eine unbewusste Erschöpfung? Der Gedanke, dass die Messe kurz bevorstand, holte sie wieder ein. Die wirtschaftliche Lage war im ganzen Land angespannt, und es war wichtig, dass sie gute Kontakte schließen würden und die Umsätze wieder in Gang kamen. Das ließ sie schon länger nicht mehr los und brachte täglich neue Herausforderungen mit sich. Sie ahnte, dass sie ihren freien Sonntag in ihrer Wohnung nicht würde genießen können. Mit jedem Kilometer, den sie tiefer in die Stadt eintauchte, wurde sie unentspannter.

Zu Hause angekommen, öffnete sie wie auf Autopilot den Briefkasten, griff hinein und nahm den Inhalt heraus. Ohne darauf zu achten, was sie in der Hand hielt, stieg sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Sie legte den Papierstapel auf den Tisch an der Fensterbank, räumte auf und machte sich eine Kleinigkeit zu essen.

»Noch ein Brief? Wie kann das sein!«, rief sie aus. Sie schob ihren Teller beiseite, zog den Brief aus dem Stapel und streichelte behutsam mit ihren Fingern darüber. Die gleiche Handschrift wie bei dem morgenroten Kuvert zu Beginn des Jahres und wieder kein Absender. Konnte dieser Brief noch von Aruna sein?

Das wurde alles immer mysteriöser!


Auch das war ein Text aus dem Buch ihrer Oma – ein weiterer Schatz aus Die Farben des Lichts. Mina saugte jedes Wort in sich auf, dankbar für die wiedergefundenen Zeilen und verwirrt zugleich. Wie in Trance legte sie den Brief beiseite, stellte ihren Teller wieder vor sich hin und sagte laut: »Ich muss erst mal was essen.« Dass ihr Porridge inzwischen kalt geworden war, merkte sie kaum. In ihr arbeitete es. Das Geheimnis dieser Briefe und die Liebeserklärung an die Natur, die sie gerade gelesen hatte, ließen mit jedem Löffel einen Entschluss reifen: Sie brauchte ein neues Zuhause im Grünen und am besten in der Nähe eines Waldes – so schnell wie möglich!

Mina entschied, sich morgen nicht an den Rechner zu setzen, über die Arbeit nachzudenken oder nach Wohnungsanzeigen zu schauen: Sie würde nach draußen in den Frühling gehen und die Natur am Stadtrand erkunden.

Als sie aufgegessen hatte, schaltete sie ihren Laptop an, öffnete eine Landkarte, wechselte in den Satellitenmodus und hielt Ausschau, wo sie am nächsten Tag starten wollte.

Obwohl sie bei der Arbeit durch die Messevorbereitung so viel zu tun hatte wie schon lange nicht mehr, erkundete Mina, sooft es ihr möglich war, von nun an die Wälder am Stadtrand und genoss die Zeit in der Natur. Die langen, hellen Tage kamen wie gerufen für ihren Plan. Mit jedem ihrer Ausflüge staunte Mina darüber, in welcher Geschwindigkeit sich die Natur im Frühling entwickelte, wie gut ihr die leuchtend hellen Grüntöne taten und wie viel frische Energie ihr die Zeit in der Natur schenkte.


Bei einer ihrer Naturzeiten ging sie in einem der Wälder vor den Toren der Stadt spazieren, als ihr auf dem kleinen Pfad ein älteres Ehepaar entgegenkam. Alle blieben stehen, und es ergab sich ein kurzes, nettes Gespräch über dies und das. Weil die beiden sehr sympathisch wirkten, erwischte Mina sich plötzlich dabei, dass sie ihnen von ihrem Wunsch erzählte, eine neue Wohnung im Grünen zu finden, und kam ins Schwärmen. Sie erzählte ihnen von Rehen, die ihr über den Weg gelaufen waren, den ersten Schmetterlingen, die sie dieses Jahr gesehen hatte, und dass ihr die Gegend, in der sie gerade unterwegs war, sehr gut gefiel. Die Wurzeln der Buchen könnten fast als Elefantenfüße durchgehen, und an manchen Stellen in der Rinde hätten sich Strukturen gebildet, die wie Augen aussähen. Alles in diesem Wald gefiel Mina und regte ihre Kreativität an.

Als sie am Ende noch einmal kurz ihren Wohnungswunsch aussprach, blitzten die Augen der älteren Dame auf, so, als wollte sie etwas dazu sagen. Fast unmerklich knuffte der Mann seiner Frau in die Seite, woraufhin diese sich zurücknahm und nichtssagte.

Oder bildete Mina sich das nur ein, weil sie sich so sehr wünschte, dass ihr die Wohnungslösung vor die Füße gelegt wurde? Vielleicht hatte sie das ältere Ehepaar auch mit ihrer kreativen Beschreibung der Bäume überfordert.