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Die hohen Lehren des Tantra



 „Was Du suchst, trägst Du schon immer in Dir – Du selbst bist Es“.


Tantra lehrt uns im Wesentlichen Folgendes


Es gibt keine Trennung oder Verschiedenheit zwischen dem Individuum, dem Göttlichen/Absoluten und dieser Welt. All das ist eins – DAS SELBST. Wir – das Individuum – sind ein ZUSTAND dieses Selbst. Alles, was auf dieser Welt existiert, sind vorübergehende Zustände des Selbst. Endet der eine Zustand so fließt er in den anderen über. Leben und Tod sind ebenso unterschiedliche, ineinander verlaufende Zustände des einen Selbst, wie Sein und Nicht-Sein, Erleuchtung und Illusion, Wachen und Schlafen, Jugend und Alter. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, sei es Freude sei es Schmerz – unser tägliches Leben – ist ebenfalls nichts als das ewig wandelbare SELBST. DU BIST DAS SELBST.

von Dr. phil. Joachim Reinelt


Le Temple Kandariya Mahadeva (Khajurâho)
© dalbera/flickr
Wie fühlen wir uns, wenn wir das so lesen oder hören, und wenn wir das für einen Moment auch so annehmen, also bewusst in uns wirken lassen?

Der Trick – ja geradezu das Meisterstück – des Geistes bzw. Verstandes war und ist es, uns das exakte Gegenteil glauben zu lassen. Nämlich dass wir unvollkommen sind, dass es uns an etwas Wesentlichem ermangelt. Und dass das, was wir suchen, weit, weit weg ist. Und so phantasieren wir – leider unterstützt von allerhand religiösen und spirituellen Lehren und Glaubenssätzen – von einem Gott oder einem Göttlichen, der oder das 1. Nicht-Hier sondern weit weg ist, jenseits dieser Welt; 2. Nicht-Jetzt erfahrbar ist, sondern uns erst irgendwann begegnen wird; – und vor allem 3. Ganz anders ist als wir selbst – Gott ist groß, vollkommen und ewig, wir hingegen sind klein, unvollkommen und sterblich.

Jedes Mal, wenn wir so denken und zwangsläufig entsprechend handeln, nähren und verstärken wir die Vorstellung bzw. Wahrnehmung von „Ich habe ES/IHN noch nicht erlangt, ich bin noch nicht an meinem Ziel – ich muss weiter suchen. Um ES bzw. IHN zu finden, muss ich weit gehen, lange suchen, muss ein anderes, ein heiliges, Leben führen, muss der Welt entsagen.“ Geben wir es zu: Wir haben alle den einen oder anderen Gedanken dieser Art schon gehabt – gerade wenn wir uns auf dem spirituellen Weg befinden. Denn dieses Mangelbewusstsein findet sich leider auch in den Lehren vieler religiöser und spiritueller Traditionen wieder. Da ist viel die Rede vom Überwinden und Entsagen – und von dieser Welt als einem Ort, mit dem wohl irgendetwas nicht stimmt. Dabei ist das einzig Entsagenswerte – wie es ein großer tantrischer Yogameister einmal ausdrückte - „Deine falsche Vorstellung, dass Du und Gott nicht Eins sind.“

Der Schleier, der uns die Sicht vernebelt, ist unsere falsche Vorstellung von uns selbst. Deshalb wohl schrieb der großartige Sufi-Mystiker Fariduddin Attar (1136-1220) über seinen nicht minder berühmten „Mystiker-Kollegen“ Schibli:


Ein Mann frug einmal Schibli: „Auf den Pfad,

wer führte erst dich, dass du Gott genaht?“

„Ich sah“, sprach er, „am Brunnen einen Hund –

vor Durst verzweifelt, riss er auf den Mund.

Als er sein Spiegelbild im Brunn' gesehen,

da meint’ er, einen fremden Hund zu sehen.

Er trank aus Angst vor jenem Hunde nicht,

sprang hin und her und kam, und kam dann nicht;

doch als sein Durst ihm dörrte Maul und Magen,

konnt’ er es schließlich doch nicht mehr ertragen

und stürzte sich ins Wasser ungebunden -

da plötzlich war der „andre“ Hund verschwunden.

Kein „andrer“ mehr vor seinen Augen stand –

er selbst war ja der Schleier – der verschwand!

Als das geschah, war alles klar für mich:

Gewiss, der wahre Schleier war nur ich,

und ich entward von mir und sah nur Gott.

Ein Hund ward so mein Führer hin zu Gott!“1


 
Die Meister und Meisterinnen der tantrischen Spiritualität griffen – auf der Grundlage ihrer eigenen, höchsten Erfahrungen – die alten Lehren und Ideen unter anderem des Klassischen Yoga, des Buddhismus und des Advaita Vedanta auf und erweiterten sie zu etwas Neuem. Freilich, so ganz neu und anders war es gar nicht. Denn seine Wurzeln bestanden eben in den uralten, unvergänglichen, ja geradezu ewigen Wahrheiten. Und dennoch war das, was sagten und vor allem wie sie es sagten, revolutionär und radikal anders. Denn sie kehrten die bisherige Betrachtungsweise einfach um, sodass aus dem sprichwörtlich „halb leeren Glas“ ein „halb volles Glas“ wurde – aus dem Unendlichen Nichts (Nirvana) ein Unendliches Alles (Parama-Atman, Parama-Shiva). Im Wesentlichen visiert es also - wie könnte es anders sein - dasselbe Ziel an. Und doch ist der Weg dorthin und unser damit einhergehendes Lebensgefühl ein gänzlich anderes. Denn es ist schon ein Unterschied, ob wir in unserem Leben alles ausschließen, um zum Höchsten zu gelangen (Neti Neti – nicht dies, nicht dies2) oder alles liebevoll mit einschließen und das Leben, wie es uns begegnet, umarmen (Iti iti – [auch] dies, [auch] dies).

Es entstand so die traditionsreiche tantrische Lehre, in der unter anderem sinngemäß gesagt wird:

„Was du suchst existiert hier und jetzt! Wo willst Du also hin? Bleibe und lebe in dieser Welt – und erkenne, dass DU das SELBST bist, das SELBST das immer schon erlangt IST. Du bist das Höchste Bewusstsein. Und wenn du es in dir als DICH SELBST erkannt hast, wirst du es in ALLEM und JEDEM wieder erkennen. Die Glückseligkeit, die du immer gesucht hast, ist DEINE wahre Natur. Der, den du suchst, das bist du selbst.“

Meditation
© Moyan_Brenn/flickr

In dem nachfolgenden, berühmten Gedicht versucht der große tantrische Meister und Dichterheilige KABIR (15. Jh.) unseren Blick und die Richtung unseres Bemühens umzulenken – auf der Grundlage  seiner eigenen Sadhana-Erfahrungen und natürlich der tantrischen Lehren, die er auf poetische Weise in seinen Werken zum Ausdruck brachte:


„Ich lache, wenn ich höre, dass den Fisch dürstet im Wasser.

Du siehst nicht, dass zu Hause die Wirklichkeit ist.

Und Du wanderst und wanderst von Wald zu Wald, lustlos. HIER ist die Wahrheit!

Gehe hin wo immer du willst, nach Benares oder Mathura –

wenn Du dein eigenes Selbst nicht findest, bleibt Dir die Welt unwirklich.“


 

Ist das Ausdruck von Vermessenheit, Hybris, Größenwahn? Nein, höchste Demut! Demut vor dem allgegenwärtigen SELBST. Wer das Selbst in und als sich wirklich erfährt, wird vom eigen-willigen Erwachsenen und zum staunenden Kind – nicht zum Herrscher, sondern zum Diener. Denn das Selbst ist nicht das Besondere, das über allem erhaben ist. Gott ist nicht nur das Heilige – das, was ganz anders ist, als das Offenbare, Weltliche, Alltägliche. Würde man mich fragen, was ich für das Besondere und Einzigartige der Tantras halte, so würde ich sagen: Hier wird nicht gelehrt, das Gott ausschließlich auf die eine Weise zu finden ist und keinesfalls auf eine andere. Stattdessen wird gesagt: Gott ist inmitten deiner alltägliche Aktivitäten erfahrbar – in jedem Augenblick, in jeder Erfahrung, die du machst.

Die Konzentrations-Übungen bzw. Zentrier-Techniken (Dharana3), die wir im Vijnana Bhairava Tantra vorfinden, basieren auf eben dieser außerordentlich lebensbejahenden spirituellen Grundhaltung und Philosophie, wie sie oben zum Ausdruck kommt. Daher möchte ich zum Abschluss dieses Beitrags als praktisches Übungs-Beispiel Vijnana Bhairava Vers 116 zitieren, und zwar sowohl den Original-Text, die Übersetzung, als auch den Kommentar von Frau Prof. Bäumer, die dieses Werk für jeden verständlich aufbereitet hat:

yatra yatra mano yati bahye vabhyantare 'pi va / tatra tatra sivavastha vyapakatvat kva yasyati

Wohin auch immer deine Gedanken gehen, ob nach außen oder innen, eben dort ist der göttliche Zustand zu finden. Da Shiva alles durchdringt, wohin könnten die Gedanken gehen, wo Er nicht ist?

Kommentar (in Auszügen):

„Es ist nicht nötig, sich eine bestimmte Vorstellung von Gott zu machen und dann darüber zu meditieren. Wenn Shiva alles mit seiner Wirklichkeit durchdringt, ist dann nicht auch jedes Staubkorn und jeder Grashalm, jedes Gefühl und jeder Gedanke von Ihm erfüllt? Und wenn man sich auf diese äußere oder innere Präsenz konzentriert, wird der göttliche Zustand eben dort erfahrbar.

Darin liegt eine ungeheure Befreiung von allen religiösen Fixierungen, die immer ausschließlich sind: Gott ist hier und nicht dort, so und nicht anders; die äußeren Dinge, Gefühle und Gedanken sind auszuschließen, um sich Gott zu nähern, und ähnliche Vorstellungen und Vorschriften. Theologisch begründet dieser Vers eine solche universal gültige Praxis mit einem Wort: vyapakatvat, 'aufgrund seiner Alldurchdringung oder Allgegenwart'.

'Wo immer sich deine Gedanken hinwenden', dort ist der göttliche Zustand, weil alles vom reinen, göttlichen Bewusstsein durchdrungen ist. Hier drückt sich die ganze Philosophie des Shivaismus [von Kashmir] auf die Praxis bezogen in aller Kürze aus.“4

 
Übrigens: Diese wie auch die anderen Dharanas sind durchaus zur praktischen Anwendung – also Meditation – vorgesehen . . . und bilden die Grundlage meiner Seminare zum Thema "Tantra" und "Yoga von Kashmir".


Dr. phil. Joachim Reinelt
© www.proyoga.de
Dr. phil. Joachim Reinelt ist Indologe, Seminarleiter, Buchautor und praktiziert und unterrichtet seit über 30 Jahren Yoga.

Er studierte die alten Sprachen, Religionen und Kulturen Indiens und verfasste nach langjährigen Forschungsaufenthalten in Indien seine Doktorarbeit über Praxis und Philosophie der alten Tantra- und Kundaliniyoga-Traditionen.

Zur Zeit ist er Dozent für Yogalehrer-Ausbildungen, Lehrer für Entspannungsmethoden und Meditation, aber auch Fachlehrer an staatlichen und freien Schulen.

Webseite: www.proyoga.de

 

1 Übersetzung von Prof. Annemarie Schimmel

2 Elementarer Ausspruch bzw. Lehrsatz der Upanishaden (z.B. Brihadaranyaka Upanishad 4.5.15), der die Grundhaltung des darauf aufbauenden Advaita Vedanta verdeutlicht.

3 Der Begriff Dharana wird im Tantra in einem etwas anderen Sinne verstanden, als im Klassischen Yoga. So heißt es im Netra Tantra (8.16): "Dharana (Konzentration) ist eine Praxis, durch die das Wesen des Höchsten Selbst (Paramatman) immer im Bewusstsein 'gehalten' wird, und diese Dharana ist in der Lage, die weltliche Gebundenheit zu lösen.“

4 Bettina Bäumer, Vijnana Bhairava – Das Göttliche Bewusstsein. New Delhi 2003, S. 181-82.

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